Die Türkei und die Zensur

Die Sperrung von Twitter war erst der Anfang.

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Wann fliegen NATO-Verbände erste Angriffe gegen Ankara, wann wird Istanbul in die Freiheit gebombt? Und wann beschließt die EU umfangreiche Sanktionen gegen die Türkei? Offensichtlich gar nicht. Im Fall des Kosovo und in Libyen wurde man in den westeuropäischen Hauptstädten schneller aktiv. Auch in der Auseinandersetzung der Ukraine mit Rußland um den südlichen Landesteil Krim wurde man alsbald aktiv und Sanktionen gegen Putin standen auf der Tagesordnung.

Doch die EU macht feine Unterschiede, welche konkreten Vorgänge sie für schlimm erachtet und welche nicht. So darf beispielsweise das Abschlachten der Bevölkerung in Syrien ohne Konsequenzen für Assad weitergehen und dürfen die Revolutionäre in Ägypten im Schnellverfahren über 500 Demonstranten zum Tode verurteilen. Dazu findet in Europa offiziell kaum Empörung statt.
Da veröffentlicht Amnesty International eine Liste der Länder, die noch immer Todeskandidaten hinrichten, mit zunehmender Tendenz, und auf dieser Liste stehen China und die USA weit oben. Trotzdem trifft man sich gut gelaunt auf EU-Gipfeln und bei anderen Gelegenheiten mit Obama und chinesischen Vertretern.

Nur beim Kosovo griff man seinerzeit hart durch und besetzte diesen Landesteil ebenso völkerrechtswidrig, wie dies derzeit mit der Krim passiert. Die Nato und die EU passen ihre Moralvorstellungen immer dynamisch an ihre wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen an.

So geschieht es im Moment auch im Fall der Türkei. Ministerpräsident Erdogan ließ letzte Woche Twitter sperren, weil ihm dieser Dienst offenkundig zu demokratisch und die damit verbreiteten Nachricht zu kritisch waren. Zunächst nur per DNS-Sperre, die man leicht umgehen konnte, dann per IP-Sperre.

Twitter ist in der Türkei ein sehr wichtiges Medium. Die Verbreitung und Nutzung ist um einiges höher als in Deutschland. Rund 40 Prozent aller Internetnutzer in der Türkei nutzen aktiv diesen Dienst. Twitter ist in der Türkei der Meinungsverstärker, und das paßt Erdogan nicht in den Kram.
Zusätzlich zur DNS- und IP-Sperre von Twitter wurden auch der Google-DNS-Dienst, VPN-Anbieter und der URL-Verkürzer t.co auf Anweisung der Regierung geblockt. Und um die Zensur perfekt zu machen, wird nun auch die Webseite von Tor gesperrt. Damit wird es fast unmöglich, in der Türkei noch Twitter zu nutzen.

Zwar hat ein Gericht in Ankara die Sperren für unzulässig erklärt, und der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç sagte die Umsetzung dieses Urteils zu, doch Erdogan läßt sich Zeit mit der Rücknahme der Sperren. Wann Twitter und die anderen Dienste wieder frei zugänglich sind, steht in den Sternen.

Offizielle Empörung der EU darüber oder diplomatische Konsequenzen für die Türkei? Fehlanzeige, von angedrohten Sanktionen ganz zu schweigen. Die Bundesregierung läßt den Menschenrechts­beauftragten Strässer seine Empörung formulieren. Mehr nicht. Kein Statement vom Merkel, keines von Außenminister Steinmeier, geschweige denn eine gemeinsame Erklärung der EU. Damit tritt man die Menschenrechte mit Füßen.

Nachtrag: Wie zu befürchten, wird Erdogan das Gerichtsurteil ignorieren und seinen Sperrwahn fortsetzen. Jetzt soll YouTube unter die Zensur fallen und ab sofort in der Türkei nicht erreichbar sein.

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